Portrait der Forschungsgruppe (2018)
Anfang Oktober 2017 fand mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) unter dem Titel West-östliche Raumfigurationen: Wohnen – Unterwegssein ein Symposium an der Gakushuin-Universität statt. Zwei Tage lang präsentierten zwanzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Japan, Deutschland, Korea, Österreich und der Schweiz ihre Überlegungen zu diesem Thema, das sich als ungemein vielfältig erwies: Es ging um öffentliche Räume und privates Wohnen, um Haus, um Innenräume und den Garten, die Nachbarschaft, Bergwelten, Orte außerhalb des Alltags oder der Realität, um das Reisen zwischen Kontinenten und Kulturen, das Wohnen auf der Brücke, den Aufenthalt in Transitzonen und das Verweilen an Orten. Dabei wurden nicht nur westliche wie östliche Perspektiven auf- und eingenommen – von bekannten Philosophen wie Heidegger und Nishida oder weniger rezipierten wie Alfred Schütz und Augustin Berque; von Klassikern wie Musil, Thomas Mann, Endō Shūsaku, Ōe Kenzaburō bis zu jungen Autorinnen wie Kathrin Röggla und Murata Sayaka, nicht zu vergessen Ozu Yasujirō, Okada Toshiki, Christopher Alexander – all diese Perspektiven wurden darüber hinaus in der Diskussion hinterfragt, weiterentwickelt, zueinander in Beziehung gesetzt, um sich gemeinsam einem möglichen Gesamtbild des facettenreichen Themas anzunähern.
Die Veranstaltung war die siebte in einer Reihe thematisch unterschiedlicher Tagungen, organisiert von einer Gruppe japanischer und deutschsprachiger Germanisten – einer Forschungsgruppe mit inzwischen fast zwanzigjähriger Geschichte.
Unter den Referenten des Symposiums im Oktober befanden sich nur drei, vier Mitglieder aus der Anfangszeit. Im Laufe der Jahre hat sich die Gruppe immer wieder erneuert. Die Mitgliederstruktur reicht von Doktoranden über junge Lehrbeauftragte und Assistenten bis zu Professoren. Selbst der Name der Forschungsgruppe hat sich mehrmals geändert. War es zunächst die „Figurations-Gruppe“, hieß sie anschließend „Exil-Gruppe“, dann „Kuko“ (von „Kulturkontakt“) und im Moment schlicht „Raum-Gruppe“.
Die Namen spiegeln das jeweilige Forschungsthema der Gruppe wider, zu dem teilweise mehrere Veranstaltungen durchgeführt wurden mit Vorträgen von Gruppenmitgliedern und Gastreferenten, die im Anschluss auch immer publiziert wurden. So mündeten die drei Kolloquien der Figurations-Gruppe in den Jahren 2003, 2004 und 2005 in dem Band Figuration – Defiguration. Beiträge zur transkulturellen Forschung. Die Exil-Gruppe organisierte im Jahr 2010 eine große Tagung mit dem Goethe-Institut Tokyo zum Exil in Ostasien, deren Beiträge unter dem Titel Flucht und Rettung. Exil im japanischen Herrschaftsbereich (1933-1945) veröffentlicht wurden. Drei Jahre später folgte bei „Kuko“ ebenfalls eine internationale Tagung über „Grenzen der Lesbarkeit von Kulturen: Kulturkontakt-Modelle“, auf deren Vorträgen der Sammelband Kulturkontakte. Szenen und Modelle in deutsch-japanischen Kontexten beruht. Und die Raum-Gruppe veranstaltete zunächst 2016 einen Workshop zu west-östlichen Raumfigurationen, bevor 2017 das eingangs vorgestellte Symposium stattfand. Aus diesem geht der Sammelband mit dem Titel Wohnen und Unterwegssein. Interdisziplinäre Perspektiven auf west-östliche Raumfigurationen hervor.
Dass man trotz dieser unterschiedlichen Themen bzw. Namen von derselben Forschungsgruppe sprechen kann, liegt wie so häufig an Personen und Orten, die bei allen Veränderungen für die notwendige Kontinuität sorgen. Bei den Personen ist dies in erster Linie Thomas Pekar, Gruppenmitglied von Beginn an und seit langem treibende Kraft – und mit ihm als Germanistikprofessor an der Gakushuin-Universität der dortige Institutsraum, in dem sich die Gruppe meistens trifft. Hier werden neue Themen entschieden, passende Texte werden ausgewählt, hier wird in regelmäßigen Treffen gelesen, nachgedacht und diskutiert, zu jedem Thema über mehrere Jahre hinweg. In Japan ist solch ein gemeinsames Lernen nicht unüblich, doch diese Forschungsgruppe ist etwas Besonderes: sowohl in der japanisch-deutschen Zusammensetzung der Mitglieder als auch in der Intensität, mit der ohne Rücksicht – weder auf pädagogische Vorgaben noch auf Altersunterschiede – debattiert werden kann. Für die deutschsprachigen Mitglieder ist die Gruppe darüber hinaus eine Chance, die eigene Forschung nicht unberührt von der japanischen Umgebung zu betreiben, sondern neue Denkansätze kennenzulernen und ihre Arbeit davon beeinflussen zu lassen.
Mechthild Duppel
Leicht gekürzte Version einer Kolumne von der Homepage der Japanischen Gesellschaft für Germanistik (JGG).