Johannes Waßmer (Osaka Universität): Schriftmaterialität zwischen Opazität und Medialität

Die Materialität von Schrift wurde in der neuzeitlichen Episteme schon aufgrund ihrer Medialität, sich aisthetisch selbst zu neutralisieren (vgl. Krämer 2008), über Jahrhunderte hinweg kaum beachtet. In der europäischen Moderne ist mit dem Schrift-und Typographiedesign von Kurt Schwitters und Jan Tschichold (vgl. Tschichold 1975) die Unsichtbarkeit von Schrift einem Bewusstsein für ihre materialen Eigenschaften gewichen. Damit rückt neben der symbolischen Zeichenfunktion von Schrift, auf ein Signifikat zu verweisen, auch Schrift als reine Signifikanz in den Blickpunkt. Für die Lyrik europäischer Sprachen und ihre Schriftbildlichkeit ist das seit langem bekannt und wird beforscht (vgl. Polaschegg 2012) Der Vortrag begreift Schriftmaterialität als zunächst undurchsichtige Signifikanz, die ihre Opazitätnicht notwendig, aber möglicherweise (z.B. Hieroglyphen, Maya-Glypen) in eine semiotische Lesbarkeit überführt. Opake Schriftphänomene, so die These, bleiben nicht stumm im Sinne einer von Gumbrecht beschworenen „Stummheit der Dinge, die mit jener Stummheit präsent sind, die ihre Präsenz bewirkt“ (Gumbrecht 2004, S. 110) Vielmehr löst die Opazität von Schrift unterschiedliche semantisierende Phänomene aus: Lektüredruck (das biblische„Mene mene tekelu pharsin“ am Hof Belsazars) und begründete Erwartung einer Lesbarkeit (z.B. der Diskos von Phaistos und das Voynichmanuskript), unkontrollierte wilde Semiose (E.T.A. Hoffmanns ‚Der goldne Topf‘ oder Heinrich von Kleists ‚Der Griffel Gottes‘, vgl. Assmann 1988) oder sie integriert Text und ikonischen Paratext (z.B. im Fall der Schriftkunst Cy Twomblys). Im Vortragbeschreibeich das Medienphänomen ‚opake Schriftmaterialität‘ in seiner Funktionsweise an ausgewählten Beispielen: Opake Schriften gewinnen gerade aufgrund ihrer materialen Widerständigkeit Bedeutung (vgl. Hoffmann, Kleist), transgredieren als Relaisstation literarische und mediale Fiktionen der (Pop-)Kultur des 20. Jahrhunderts in die Realitiät (Herr der Ringe: Elbisch; Star Trek: Klingonisch etc.),werden als politische Stellungnahme verstanden (Dada oder Xu Bing, vgl. dazu Klawitter 2018) oder eingesetzt, um kulturelle Identitäten zu vereindeutigen oder um kulturelle Stereotype zu bestätigen (vgl. Takagi, 2012, 2013). Ziel ist es, die Potentiale der Oberflächlichkeit von Schrift in ihrer undurchsichtigen Signifikanz aufzuzeigen.

CV Johannes Waßmer

Arne Klawitter (Waseda Universität, Tokyo): Kleckse, Sudeleien und Skripturen. Justinus Kerners Klecksographien und Axel Maliks skripturale Methodepielsweise häufig gestellte Fragen eingeben

Laut Focuault (OdD, 365f.) wendet sich das Schreiben seit Beginn des 19. Jahrhunderts unentwegt an sich selbst als schreibende Subjektivität oder sucht in der Bewegung, in der es entsteht, das Wesen der Literatur zu erfassen, so dass schließlich das Schreiben selbst auf den Akt des Schreibens zuläuft, um ihn einzukreisen und zum Gegenstand der Darstellung zumachen. Ausgehend von dieser Beobachtung werden im Vortrag zum einen Justinus Kerners 1857 veröffentlichte Klecksographien untersucht. Dabei handelt es sich um Faltbilder mit Tintenklecksen, die geisterhafte Gestalten ausbilden und mit poetischen Versen versehen sind. Diese Klecksographien dokumentieren nächtliche Schreibszenen und können als figurativ-diskursive Inszenierungen des Schreibakts verstanden werden. Dem Verfassen der poetischen Verse geht zeitlich die Faltung eines Blattes Papiers voraus, das handschriftlich beschriebenworden ist, wobei ein im „tintenklecksenden Säkulum“, wie Schiller es nannte, auftretendes Nebenprodukt eine wichtige Rolle spielt: die sogenannten Tintensäue, die wiederum zum Impulsgeber einerseits für phantasievolle Zeichnungen, andererseits für lyrische Versewerden, die thematisch um ihre klecksographische Entstehung kreisen und immer wieder Schreibinstrument, Schreibträger, Schreibmittel, Schreibbewegung sowie ihre imaginären Wirkungen kommentieren. Der zweite Teil befasst sich mit dem Wirken des Berliner Künstlers Axel Malik, der 1989 miteinem Projekt des „täglichen Schreibens“ begann. Er folgt dabei den spontanen Bewegungender Hand und bringt einzelne, „zeichenartige[] Setzungen“, wie ersie nennt, aufs Papier:„Bewegungsspuren“, die sich entlang der (gedachten) Heftlinien ausbreiten. Doch diese Bewegungsspuren formen keine erkennbare Zeichen aus, nicht einmal Chiffren, da sie völlig individuell sind. Das Ergebnis dieses Ensembles komplexer Linien ergibt eine „skripturale Matrix“, deren ‚Zeichen‘ nichts bedeuten und nichts beschreiben, was „außerhalb ihrer eignen Vibration und Impulsdichte existiert“, d.h. sie verweisen allein auf sich selbst: ihren Schreibprozess, auf die Bewegung ihres eigenen Zustandekommens, den Akt des Aufschreibens.

CV Arne Klawitter

Takeo Tano (Takushoku Universität, Tokyo): Die Verbindung von medizinischer Realität und Literatur im Akt des Schreibens bei Justinus Kerner: ‚Der Reiseschatten‘ und ‚Die Geschichte Zweier Somnambülen‘

Der schwäbische Schriftsteller Justinus Kerner (1786–1862) veröffentlichte 1811 seinen Debütroman ‚Reiseschatten‘. Als Arzt war er dem bereits in medizinischer Behandlung befindlichen Dichter Hölderlin begegnet, den er in der Figur des verrückten Dichters „Holder“ darstellt, was von zeitgenössischen Kritikern stark kritisiert wurde. Möglicherweise war der Arzt Kerner von Hölderlins Krankheit und den Veränderungen, die er während seiner Psychose durchmachte, tief betroffen. Dafür sprechen auch einige spätere Äußerungen Kerners in seinen Briefen, die die nachhaltige Wirkung seiner Begegnung mit dem kranken Dichter verdeutlichen. Kerner war bewusst, dass sein Seelenverwandter psychisch erkrankt war und hatte selbst seit seiner Schulzeit mit melancholischen Stimmungen zu kämpfen. Es wird vermutet, dass er Angst hatte, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Hölderlin selbst. Der Reiseschatten beschreibt detailliert die Psychopathologie, die durch ein Trauma verursacht wird. Die Geschichte ‚Zweyer Somnambülen‘ wiederum ist ein Buch von Kerner über das Phänomen des Schlafwandelns. Das Buch enthält Fälle von zwei schlafwandelnden Patienten, die von Kerner beobachtet wurden. Das Buch erregte in der medizinischen Fachwelt großes Aufsehen und leistete einen wertvollen Beitrag zum besseren Verständnis der Schlafwandlerstörung. Kerner versuchte, das Schlafwandeln zu heilen, indem er mit den Patienten interagierte, um ihre psychologischen Probleme zu lösen. Beide Werke Kerners beziehen sich auf medizinische Themen, erforschen aber auch Aspekte des menschlichen Geistes. Für Kerner ist der Akt des Schreibens eng verbunden mit der Vermischung von realer und irrealer Welt sowie der Entschlüsselung komplexer Probleme des menschlichen Innenlebens. Für ihn wendet sich das Schreiben an die schreibende Subjektivität: Grundlage des Schreibaktes ist die ‚Erlösung‘ des Ich mittels Verschmelzung der Realität mitsamt seiner pathologischen Natur und dem virtuellen Raum der Literatur.

Kosuke Endo (Chuo Universität, Hosei Universität): Von der Kritik zur „différance“ der Schrift. Zu Mojika (文字禍) Atsushi Nakajimas und Mojika (文字渦) Toh Enjoes

Der vorliegende Vortrag ist einer vergleichenden Untersuchung zweier japanischer Novellen gewidmet, die die Schrift unter unterschiedlichen Gesichtspunkten thematisieren: Mojika (文字禍,„das Unheil der Schrift“) (1942) von Atsushi Nakajima und Mojika (文字渦,„der Wirbel der Schrift“) (2018) von Toh Enjoe. In Nakajimas Mojika handelt es sich um einen alten Wissenschaftler, der auf Befehl des assyrischen Königs Ashurbanipalden ‚Geist der Schrift‘ untersucht. In Enjoes Novelle, die die Titelnovelle der gleichnamigen Sammlung ist,wird der Protagonist Yō(俑), der an der Herstellung zahlreicher Terrakotta-Krieger (兵馬俑) für den Mausoleum Qin Shihuangdis der chinesischen Qin-Dynastie arbeitet,vom Kaiser befohlen, seine Terrakotta-Figur anzufertigen. Enjoe hat seine Novelle wahrscheinlich als eine Hommage an Nakajimas Novelle geschrieben: Beide Novellen spielen sich etwa in einem Reich ab, das nicht nur in seiner Zeit das größte in der Welt war, sondern auch ein schriftbasiertes bürokratisches Verwaltungssystementwickelte. Auf der anderen Seite verhält sich Enjoes Novelle zu der Nakajimas wie „différance“(Derrida) zu„différence“: Die Titel der beiden Novellen lesen sich phonetisch gleich, aber schreiben sich in der linken Radikal des letzten Kanji unterschiedlich. Die „différance“ spielt auch in der Handlung von Enjoes Mojika eine zentrale Rolle, denn hierin geht es um die Generierung der Zeichenvarianten (itaiji) von „嬴“, das Schriftzeichen für den Familiennamen des Kaisers, also um einen für die chinesischen Schriftzeichen charakteristischen Prozess der Schriftvariantenzuwachses. Im Unterschied dazu werden in Nakajimas Novelle negative Auswirkungen der Schrift auf die Menschen hervorgehoben.In der vorliegenden Untersuchung werden die Novellen von Nakajima und Enjoenicht zuletzt im Hinblick auf zwei unterschiedliche Schriftkonzepte gelesen. Während Nakajima der westeuropäischen Tradition der Schriftkritik seit Platon folgt, geht Enjoe vom auf der „différance“ basierten, postmodernen Schriftbegriff aus. Dieser Unterschied hat auf der Handlungsebene der Novellen unterschiedliche politische Implikationen: Bei Nakajima wird die Schriftkritik der Kritik des politischen Herrschaftssystems gleichgesetzt, während in Enjoes Novelle die regellose Zeichenvariierung des Familiennamens Ying (嬴) die Selbstidentität und die politische Aspiration des Kaisers unendlich aufschiebt.

Maxim Görke (Universität Straßbourg): „tresorraum japan.” Zum Haiku bei Thomas Kling

Kaum ein deutschsprachiger Autor des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts hat das Ineinandergreifen von Gegenwart und Tradition mit einer vergleichbaren Konsequenz ins Zentrum seines künstlerischen Schaffens gestellt, wie der 2005 verstorbene Lyriker Thomas Kling. Seine ab Ende der 1980er Jahre in schneller Regelmäßigkeit publizierten Gedichtbände verfolgen stets einen sprach- und wissensarchäologischen Ansatz, der auch auf außereuropäische Traditionen rekurriert. Den Ostasien und Westeuropa miteinander verbindenden, interkulturellen Blickwinkel des Workshops aufgreifend, fokussiert mein Beitrag die in Klings lyrischem Werk nachweisbare Auseinandersetzung mit dem epigrammatischen Dreizeiler des japanischen Haiku, dessen Rezep-tion im deutschsprachigen Raum nach dem Ersten Weltkrieg einsetzt – eine Epoche, die nicht zuletzt Klings frühe Arbeiten in hohem Maße inspiriert. Ausgangspunkt der historisch diachron betriebenen literaturwissenschaftlichen Überlegungen ist der im Gedichtband ‚brennstabm‘ (Suhrkamp, 1991) veröffentlichte, aus zwölf Haikus bestehendeZyklus „schnellschach, sekundn-bonsai.”, welcher von der Forschung bisher weder erschöpfend analysiert, noch aus der, ob des expliziten Rückgriffs auf die japanische Lyriktradition sich aufdrän-genden Ost-West-Perspektive betrachtet wurde. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach den poetologischen und narrativen Folgen, die sich beim Übergang von einem Zeichen- und somit auch Denksystem zum anderen ergeben. Insbesondere in Bezug auf die für Klings Dichtung charakteristische Schriftbildlichkeit, ihre macht- bzw. hand-lungsproduktive Qualität und ihr Potential als écriture intransitive nach Roland Barthes sucht der Beitrag Impulse zu setzen. Ziel ist es, neue, bisher kaum oder nicht bedachte Lektürespuren für die weitere Analyse des Werkes von Thomas Kling aufzuzeigen.

CV Maxim Görke

Fuminari Niimoto (Meiji Universität): Zur (Un)übersetzbarkeit vom Laut in die Schrift - Eine übersetzungsvergleichende Lektüre von Ilma Rakusas grenzüberschreitenden, exterritorialen Erinnerungspassagen ‚Mehr Meer‘

Wie könnte man vorgehen, wenn es darum geht, ein mehrsprachiges Werk einer „Übersetzerin-Autorin“ wie Ilma Rakusa zu übertragen?Ihren Übersetzern stellt sie folgende schwere Aufgabe: „Rhythmus, Sprachmelodie, Klang charakterisieren jeden literarisch-poetischen Text (nicht nur Gedichte), sie sind Teil jener Form, die vom Inhalt nicht zu trennen ist. Diese Einheit wieder zu geben, gehört zur Kunst des Übersetzers.“ (Merk-Kakehashi Literaturpreis 2016. Begleitheft, 40) In der Tat sind ihre autofiktionalen Erinnerungspassagen ‚Mehr Meer‘ (2009) reich an rhetorisch anspruchsvollen und formal komplexen Sprachspielen,sodass ihre Übersetzer beinahe an den Rand der Verzweiflung getrieben werden. Noch herausfordernder wird die Übertragung dann, wenn diese eine Umsetzung der Schrift mit einschließt: Deutsch und Japanisch sind nicht nur kulturell weit entfernte Sprachen. Sie sind sprachsystematisch sehr unterschiedlich und verwenden als Medium des Ausdrucks verschiedene Schriftzeichen. In dieser Präsentation werden konkrete Übersetzungsbeispiele des Werkes in verschiedene Sprachen vergleichend analysiert. Es soll aufgezeigt werden, welche Spielräume diejeweilige Sprachdifferenz einem experimentierfreudigen Übersetzer bietet und welche neuen exterritorialen Lesemöglichkeiten eine Auseinandersetzung insbesondere mit der Schriftdifferenz eröffnet.

CV Fuminari Niimoto

Robert F. Wittkamp (Kansai-Universität): Japans älteste Reflexion zur Verschriftung

712 wurde am Hof das Kojiki, das älteste Geschichtswerk Japans, eingereicht. Während das Werk selbst einen bereits aus dem späten siebten Jahrhundert bekannten Stil weiterführt, der die Eigenarten der japanischen Sprache zu berücksichtigen versucht, steht das Vorwort im klassisch-chinesischen Stil. Neben Erklärungen zur Existenz des Werks enthält es eine Reflexion zum Stil der Verschriftung, der in der modernen Forschung zu der vieldiskutierten Frage führte, ob das Kojiki lesbar sei. Dabei geht es nicht um Was, das heißt die rein inhaltliche Entschlüsselung des Textes, sondern um das Wie der Lesungen, wie also die geschriebene Sprache in die gesprochene zu überführen ist.

In meinem Beitrag werde ich einleitend die Reflexion vorstellen, bei der es sich zugleich um eine Leseanweisung handelt, um anschließend an Beispielen die textuelle Verwirklichung sowie die dadurch erzeugten Schwierigkeiten zu demonstrieren. Abschließend soll es um die Frage nach der Bedeutung der Verschriftung gehen beziehungsweise um die Frage, warum der klassisch-chinesische Stil verworfen wurde. Dabei ist auch zu bedenken, dass das Nihon shoki, die 720 eingereichte „offizielle Geschichtsschreibung“ (seishi) den Kojiki-Stil nicht aufnimmt, sondern wieder ins Klassisch-Chinesische zurückfällt.

CV Robert Wittkamp

Lisa Gotto (Universität Wien): Digitale Graphien. Grenzüberschreitende Schreibverfahren des Computerspiels

Computerspiele verändern nicht nur Wahrnehmungsweisen und Übertragungsverfahren. Sie sind darüber hinaus in der Lage, unser Verhältnis zu etablierten Kulturtechniken zu reorganisieren und diesen Wandel ihrerseits zu reflektieren. Das gilt auch und im Besonderen für kulturelle Praktiken der Schrift und des Schreibens. In der Begegnungszone von östlichen und westlichen Schrifttraditionen und Schreibverfahren werden im Computerspiel nicht nur variierende Bild-Text-Verhältnisse neu ausgehandelt, sondern auch Fragen nach der spezifisch digitalen Operativität von Schriftkulturen erprobt und ästhetisch produktiv gemacht. Diese Prozessualität und Variabilität in den Blick zu nehmen, macht sich mein Beitrag zur Aufgabe. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach dem ästhetischen und praktischen Potential digitaler Spiele, wenn es um die Modulation von Schriftformen sowie die Reflexion ihrer historischen Wandelbarkeit geht. Den Spielboden dafür bereiten Games wie ‚Type:Rider‘ und Ōkami sowie das Werk ‚Not Too Late‘ des Videogame-Künstlers Feng Mengbo, die zwischen Typographie und Kalligraphie oszillieren, Schriftzeichen vom östlichen in den westlichen Kulturraum transferieren und dabei die Vielgestaltigkeit des Zeichengebrauchs reflektieren. Entscheidend ist dafür die dem Computerspielbild immanente Zeitlichkeit. Sie ermöglicht die Wahrnehmung der Schrift nicht als fertige, sondern als zu verfertigende. Während das stehende Schriftbildeine abgeschlossene Anordnung präsentiert, kann im Werdegang des prozessual errechneten Bildes das Schreiben als fließender Verlauf erkennbar werden. Weiterhin verfügt das Computerspielbild über eine Handlungsdimension, die es in den Bereich des Performativen und Operativen eingliedert. Es ist nicht zuletzt diese spezifisch digital verfasste Handlungsdimension der Schrift, die Fragen nach den Brücken und Bruchstellen einer globalen Verständigungsform im Bereich der vernetzten Kulturen und partizipativen Medien eröffnet und in Bewegung hält.

Kurzbio:
Lisa Gotto ist Professorin für Theorie des Films an der Universität Wien. Zuvor war sie Professorin für Media and Game Studies am Cologne Game Lab der TH Köln, Gastprofessorin an der Leuphana
Universität Lüneburg und Fellow am Center for Advanced Internet Studies (CAIS). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Bewegtbildästhetik, Medienkomparatistik und Digitale
Medienkultur.

Website:
https://tfm.univie.ac.at/ueber-uns/personal/lisa-gotto

Philippa Sissis (Universität Hamburg): Von Schrift und Bild–Poggio Bracciolinis visuelle Rhetorik in Schrift

Für die frühen Florentiner Humanisten, wie Coluccio Salutati, Poggio Bracciolini und Niccolò Niccoli stellt Text die Basis ihrer Tätigkeit dar. Sie lesen, studieren, korrigieren und rekonstruieren ihn. Das Medium, in welchem dieser zugänglich ist, ist das Manuskript. Es stellt einerseits das Gefäß dar, in welchem sie den Text auffinden, den sie von den Spuren seiner Überlieferung wieder zu befreien suchen. Andererseits aber auch dasjenige, in welches sie ihn selbst wieder einschreiben, denn der überarbeitete Text wird wiederum als Manuskript verbreitet.

Diese Transformation wird klar reflektiert, denn für den von ihnen veränderten Text wählen sie eine neue Schrift – die humanistische Minuskel, die sie selbst „littera antiqua“ nennen. Diese orientiert sich an historischen Beispielen, sie nutzt die in den großen Manuskriptsammlungen Coluccio Salutatis und Niccolò Niccolis vorgefundenen Beispiele aus fünf Jahrhunderten, um ein humanistisches SchriftBild zu konstruieren. Durch die bewusste Auswahl von jeweils nur einigen Gestaltungsdetails und die Durchmischung mit anderen Elementen, wie Inschriftenformen und dekorierte Initialen nach toskanischem Vorbild, stellt die hier geschaffene Mise-en-page ein deutlich modernisiertes Gestaltungsprogramm dar.

Während die humanistischen Schreiber hier nicht nur eine Ästhetik auf der Basis ihrer rhetorischen Praxis schaffen, sondern sich durch die Wiederholung des Schreibaktes und die stilistische Übertragung selbst in ihre Werke einschreiben, prägen sie damit auch eine Sensibilisierung für die visuellen Potentiale von Schriftbildlichkeit, die über humanistische und gelehrte Kreise hinausgeht. Konzepte wie „Puritas und suavitas[1] die hier graphisch greifbar gemacht wurden, zeigten sich alsbald auch in der künstlerischen Umsetzung z.B. von Inschriften bei Lorenzo Ghiberti und anderen Künstlern, die sich den Formen der antiken Inschriften zuwandten. Aus dem direkten Umkreis und Netzwerk der Florentiner studia humanitatis wurden die schriftbildlichen Überlegungen einerseits und die stilistischen Elemente einer antike-orientierten Schrift andererseits europaweit in unterschiedlichen Ausformungen aufgenommen.

Die Schrift, welche bei Poggio Bracciolini als visuelles Kompositionsmittel auf der Pergamentseite und innerhalb des Raumes des Manuskripts genutzt wird, wurde für die Humanisten die naheliegendste Projektionsfläche für ihr Selbstverständnis: Sie wird zum Träger einer humanistischen Ästhetik zwischen Selbstinszenierung und Kreation eines Artefakts. Die visuelle Diskursfähigkeit dieser Schrift vermittelt sich dabei so eingängig, dass sie zum europaweiten Distinktionsmerkmal humanistischer Praxis wird und nicht zuletzt Erasmus von Rotterdam schrieb, dass der Druck eines Textes von Cicero in Fraktur statt in Antiqua barbarisch sei.

So schufen die Humanisten hier „Rede, die zum Auge spricht.“

Kurzbiografie:

Als Kunsthistorikerin, die in Berlin und Paris Kunstgeschichte und Geschichte studierte, beschäftige mich mit den Zusammenhängen und dem Zusammenspiel von Schrift und Bild, Buchkulturen seit der Antike, Humanismus und Renaissance und Kunstgeschichten und visual cultures des Black Atlantics. Insbesondere Fragen der Schriftbildlichkeit bearbeite ich über unterschiedliche historische und geografische Momente hinweg. Meine Promotion am SFB 950 Manuskriptkulturen an der Universität Hamburg habe ich 2020 mit einer Analyse des SchriftBildes humanistischer Handschriften von Poggio Bracciolini um 1400 in Florenz abgeschlossen. Von 2019 bis 2022 arbeitete ich im Forschungscluster translocations (TU Berlin), wo wir Ikonographien von Translozierungen von Kulturgütern im Laufe der Geschichte und Geographien sammelten und kommentiert haben.

Seit April 2022 bin ich Fritz Thyssen Post Doctoral Fellow an der Universität Kassel und arbeite an dem Projekt Eine Erweiterung des Horizonts - Ptolemäus' 'Geographia' im Spiegel der Studien der frühen Humanisten um Poggio Bracciolini und Niccoló Niccoli. Seit November 2022 bin ich außerdem im Exzellencluster „Understanding Written Artefacts“ an der Universität Hamburg research associate und forsche dort zu meinem Projekt Echoes and inscriptions – art and script in the works of artists in the Black Atlantic, im Rahmen dessen ich mich auch eingehend mit der visuellen Kultur(en) der Karibik auseinandersetze. Ab Mai 2023 werde ich einen Forschungsaufenthalt an der Université des Antilles (Campus Schoelcher, Martinique) antreten.

Ich habe an verschiedenen Publikationen mitgewirkt, darunter Beyond the Black Atlantic, in: Africanidades. Online Journal of the Museo Afro-Brasileiro da Universidade Federal da Bahia (Mafro), Vol. 3 (Juni 2022), Special issue assembling the proceedings of the Summerschool Anthropology and Contemporary Visual Arts from the Black Atlantic: between the Art Museum and the Ethnological museum in the Global North, guest edited by Christoph Singler and Philippa Sissis, erschienen: April 2023, Merten Lagatz, Bénédicte Savoy, Philippa Sissis (Hg.), Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe, Berlin: Matthes & Seitz 2021 und Bénédicte Savoy, Philippa Sissis (Hg.), Die Berliner Museumsinsel. Impressionen internationaler Besucher. 1830–1989, Köln/ Wien: Böhlau Verlag 2012.

[1] Ambrogio Traversari, Lorenzo Mehus (ed.), Latinae epistolae, 2 vol., Bologna: Forni, 1968, Vol. 2, Lib. XI, 19. Siehe dazu Millard Meiss, Millard, Toward a more comprehensive Renaissance Palaeography., in: The Art Bulletin 42, No. 2 (Jun 1960), 1960, p. 97–112, hier S. 99 und Ulrich Pfisterer, Donatello und die Entdeckung der Stile. 1430-1445, München 2002, S. 94.

Andreas Becker (Keio Universität, Tokyo): Aufschreiben, Beschreiben, Zuschreiben. Schriftlichkeit in Georg Christoph Lichtenbergs ‚Sudelbüchern‘

Georg Christoph Lichtenberg exploriert in den Sudelbüchern nicht nur eine neue Weise des aphoristischen Schreibens, er verhandelt auch das Schreiben selbst. Die kleine Form ermöglicht eine offene und manchmal humorvolle Art des Reflektierens über das eigene Tun und den Prozess der Niederschrift, so heißt es in Heft K: „Ich bin schon deswegen zu einem Zensor ungeschickt, weil für mich jede Handschrift, etwa meine eigene ausgenommen, eine Art von Übersetzung in eine Sprache ist, der ich wenigstens nicht bis zur Leichtigkeit mächtig bin; und so etwas zerstreut immer.“ (Lichtenberg 1994b, K 53, S. 406)

Lichtenbergs Schreiben scheint vom vermeinten Gegenstand affiziert zu werden, es lässt Sinnhorizonte aufbrechen. Wie Rüdiger Campe (2012) gezeigt hat, sind auch Kritzeleien ein Teil von Lichtenbergs Schreibform. Sowieso ist er an Zuschreibungen interessiert und an Metaphern: „Bildlichkeit im Ausdruck erscheint Lichtenberg hierbei insofern besonders wichtig, als sie dem abstrahierenden Charakter der Sprachzeichen entgegenzuwirken vermag, indem sie der Sprache ein Moment von Sinnlichkeit verleiht – und diese damit wesensmäßig an ihren Ursprung in der sensuellen Apperzeption annähert.“ (Freiling 2001, S. 34) Oft genug finden sich Vergleiche des Schreibens mit menschlichen Vermögen, manchmal ironisch gebrochen: „Nicht bloß stilles Nachdenken sondern auch Aufschreiben erleichtert den Ausdruck sehr, sondern verschafft auch die Gabe selbst dem Auswendiggelernten eine Farbe des eignen Denkens zu geben“ (im Original kursiv, Lichtenberg 1994b, J 1352 S. 249, siehe dazu auch Freiling, S. 236).

In meinem Beitrag möchte ich diesen Linien des sich selbst problematisierenden Schreibens bei Lichtenberg nachgehen und exemplarisch einige der Aphorismen im Detail interpretieren. Wie erkundet er neue Formen des Schreibens und schreibenden Denkens? Dabei sollen verschiedene Verfahren des Aufschreibens, Beschreibens, Zuschreibens in den Blick gerückt werden, genauso wie die Entwendung, Zweckentfremdung und sprachliche Verkehrung. Seine mit semantischer Unschärfe kalkulierende Sprache unterwirft das Geschriebene einem aktiven Lese- und Deutungsprozess, der für das Thema der Medialität von Schrift und den Szenen des Schreibens interessante Perspektiven eröffnet (zur Kritik des Viellesens bei Lichtenberg siehe Goldmann 1994).

Literatur

Bosse, Heinrich: Der Autor als abwesender Redner. In: Goetsch, Paul (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert: Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 277–290.

Cahn, Michael: Hamster. Wissenschafts- und mediengeschichtliche Grundlagen der sammelnden Lektüre. In: Goetsch, Paul (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert: Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 63–77.

Campe, Rüdiger: Kritzeleien im Sudelbuch. Zu Lichtenbergs Schreibverfahren. In: Driesen, Christian (Hg.), Köppel, Rea (Hg.), Meyer-Krahmer, Benjamin (Hg.), Wittrock, Eike (Hg.): Über Kritzeln. Graphismen zwischen Schrift, Bild, Text und Zeichen, Zürich 2012, S. 165-188.

Freiling, Ulrike: SprachSinnlichkeit Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache in den Schriften Georg Christoph Lichtenbergs, Marburg 2001, Online-Dok., https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2001/0395/pdf/nduf.pdf

Goldmann, Stefan: Lesen, Schreiben und das topische Denken bei Georg Christoph Lichtenberg. In: Goetsch, Paul (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert: Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 79–90.

Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher I, Frankfurt am Main 1994a.

Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher II, Frankfurt am Main 1994b.

Pfotenhauer, Helmut: Sich selber schreiben. Lichtenbergs fragmentarisches Ich. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 32 (1988), S. 77–93.

Winthorp-Young, Geoffrey: „Apostel, Apostille, Postille“. Über das Schreiben, Drucken und Telegraphieren bei Lichtenberg. In: Craig, Charlotte Marie (Hg.): Lichtenberg. Essays Commemorating the 250th Anniversary of His Birth, New York u.a. 1992, S. 23–54.

CV

Andreas Becker, Assoc. Prof. Dr. phil. habil. – Film‑ und Medienwissenschaftler an der Faculty of Letters der Keiō-Universität Tōkyō (seit 2016). 2014–2016 Eigene Stelle als Leiter des DFG-Projekts Yasujirō Ozu und der westliche Film. 2018 Habilitation zu Yasujirō Ozu, 2003 Promotion zur Zeitraffung und Zeitdehnung im Film – beides an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Publikationen/Forschungsschwerpunkte: Yasujirō Ozu, die japanische Kulturwelt und der westliche Film (Transcript 2020), Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm (Büchner 2012); Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung (Transcript 2004); der japanische und der westliche Film, komparative Ästhetik und Phänomenologie des Films, Zeitdarstellung im Film und in den Medien.

Homepage: www.zeitrafferfilm.de.

Eriko Hirosawa (Meiji Universität, Tokyo): Infizierende Schriftpraktiken im Grenzgebiet. Zur Novelle ‚Die hungernde Haut‘ (Ueta Hifu) (1951) von Abe Kōbō

Abe Kōbō (1924-1993) war ein japanischer Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor, dessen künstlerisches Schaffen nicht nur in der Literatur, sondern auch in verschiedenen Medien, darunter Hörspiel, Theater und Film, internationale Anerkennung fand. Dieser „Grenzgänger der Medien“ (Toba 2013) stand auch den technologischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts aufgeschlossen gegenüber, sodass er Anfang der 1980er Jahre als erster japanischer Schriftsteller beim Schreiben vom Füller zum Word-Processor (Wāpuro im Japanischen) überging. Zu seinen wichtigsten Themenkreisen gehört die Frage nach der menschlichen Identität, die weder durch Nationalität noch durch die jeweilige ethnische Zugehörigkeit konstituiert wird. Auch das Verhältnis zwischen Schreiber und Schrift ist ein wiederkehrendes Thema in Abes Texten. Mit dem Übergang zum digitalen Schreiben scheint er die vermeintliche Verbundenheit zwischen seiner Handschrift und seiner Identität gelöst zu haben.

In meinem Vortrag sollen anhand seiner Novelle Die hungernde Haut Abes Überlegungen zu unterschiedlichen Schreibpraktiken nachgezeichnet werden. Dazu gehören: einen Brief schreiben (Handschrift), Dokumente mit einem Stempel autorisieren (Siegel) und einen Zeitungsartikel lesen (Druckschrift). Die Novelle spielt an einem Ort, wo Japaner, Chinesen und Koreaner in Nachbarschaft leben. Dieser namenlose Ort, der an Russland angrenzt, erinnert an die Mandschurei, die verlorene Heimat des Autors. Die Geschichte wirkt auf den ersten Blick absurd und wird aus dem Blickwinkel eines „hungernden“ Mannes erzählt. Dieser fühlt sich von einer Japanerin beleidigt, die mit einem reichen Chinesen verheiratet ist. Um sich an ihr zu rächen, bedroht er sie mit einer von ihm erfundenen Infektionskrankheit. Er versichert ihr in einem Schreiben, dass man durch die Infektion je nach Umgebung unter einer Hautfarbenänderung wie beim Chamäleon leiden werde und dass nur er über ein wirksames Heilmittel verfüge. Durch diese Erpressung beabsichtigt er, die Frau zum Sex zu zwingen und ihren Mann finanziell zu ruinieren. Doch am Ende kehrt sich das Machtverhältnis plötzlich um: Beim Lesen eines Zeitungsartikels über das Schicksal des Ehepaars bemerkt der Ich-Erzähler, dass sich seine Haut dunkelgrün färbt. Der Vortrag hinterfragt die Implikationen der Schrift und der Infektion in Bezug auf die im Text dargestellten Grenzen von Kulturen, Ethnien, sozialen Schichten und Geschlechterzuschreibungen.

Literatur

Abe Kōbō (1951): Ueta Hifu [Die hungernde Haut]. In: derselbe: Suichū toshi. Dendorokakariya. Tokyo: Shinchō sha (Shinchō bunko) 1973. S. 45-65.

Toba Kōji (Hrsg.) (2013): Abe Kōbō. Media no ekkyō sha [Abe Kōbō. Der Grenzgänger der Medien]. Tokyo: Shinwa sha 2013.

Eriko Hirosawa studierte Germanistik an der Rikkyo Universität (Tokyo). Nach einem Studienaufenthalt in Hamburg als DAAD-Stipendiatin (1990-1993) ist sie seit 1995 an der Meiji Universität (Tokyo) tätig. Aufsätze über Lou Andreas-Salomé, Gender-Theorie, autobiographisches Schreiben.

Michael Wetzel (Universität Bonn): „Japan (be)schreiben“ Roland Barthes‘ Versuch der Inszenierung einer meta-kulturellen Autorschaft im Japanbuch „L’empire des signes“

Roland Barthes‘ Buch „L’empire des signes“ (Das Reich der Zeichen) von 1970, das die Eindrücke dreier Reisen durch Japan zusammenfaßt, steht in einer langen Tradition von Reiseberichten, in denen besonders französische Schriftsteller und Intellektuelle sich mit Japan auseinandersetzen. Besonders ist aber die Ambiguität seiner Rezeption: Während es für die einen das ultimative Kultbuch ist, das in der japanischen Kultur alternative Sinn-Intensitäten zur westlichen Zivilisation entdeckt, ist es für die anderen ein Sammelsurium von Vorurteilen und Fehleinschätzungen der unverstandenen Fremdheit Japans. Barthes selbst versucht sich dem letzteren Vorwurf gegenüber zu wappnen, indem er einleitend zu seinem Buch - ähnlich wie vor ihm Loti – abstreitet, über Japan selbst als reales Symbolsystem, als andere Realität einer „orientalen Wesentlichkeit“ zu schreiben, sondern ein fiktives Land irgendwo in der Welt (là-bas) zu beschreiben meint.

Doch der Widerspruch bleibt, daß es kein Utopia bleibt, sondern mit dem konkreten Namen ‚Japan‘ belegt wird, auch wenn dieser für eine Leere des Signifikanten stehen soll, für eine Differenz oder einen Riß des Symbolischen überhaupt. Die Frage stellt sich, wie Barthes in der „Doppel-Markierung“ (Derrida) Japans als Gegenstand und als Fiktion eine unmögliche Autor-Position einzunehmen versucht, die sich einer meta-kulturellen Schreibszene zugleich narrativer Montage und Demontage des Orient-Mythos verdankt, in der er dem exotistischen Narrativ im Sinne eines an anderer Stelle propagierten „intransitiven Schreibens“ zu entgehen sucht.

Dem Szenischen kommt dabei besondere strategische Bedeutung zu. Barthes beschränkt sich nämlich nicht auf das textuelle Medium, sondern erzeugt einen konnotativen Kontext mit beigefügten Photodokumenten und Reproduktion seiner handschriftschriftlichen Notizen. Mit Rücksicht auf das von Alfred Lorenzer in seinem Buch „Sprachzerstörung und Rekonstruktion“ (1970) entwickelte Konzept des „szenischen Verstehens“ ist den manifesten, semantisch ‚konstativen‘ Aussagen über Japan somit die latente ‚performative‘ Inszenierung der lebenspraktischen ‚Dramatisierungen‘ von Barthes‘ Japan-Erlebnissen zu konfrontieren. So läßt sich rekonstruieren, wie das eigentliche ‚Monologisieren‘ Barthes‘ den hyper-realen Effekt einer ‚Japonizität‘ als Unähnlichkeit erzeugt, wie sein frankophoner „Monolinguismus“ (Derrida) das meta-kulturelle Andere als „Sich-Fremde“(Kristeva) (er)findet.

CV Michael Wetzel

Jasmin Kathöfer (Hochschule für Bildenden Künste Braunschweig): Das Reich der Zeichen–Revisited. Auf den Spuren Roland Barthes‘‚ Japan‘

Vor etwas mehr als 50 Jahren erschien Roland Barthes Reich der Zeichen, ein Buch das bis heute nachlebt und wirkmächtig ist – das aber in seiner Entstehung auch sehr speziell ist. Ohne der Landessprache mächtig zu sein und zugleich ohne in einer anderen Weise eine Expertise für das Land und seine Traditionen ausweisen zu können, schrieb Barthes einen Bericht bestehend aus 26 Fragmenten über Japan und seine Zeichen, indem er sich mit den kleinen Dingen beschäftigte, wie etwa den Augen, dem Essen oder den Zeichen der Stadt. Er schrieb dabei unbeeinflusst von den existierenden akademischen Diskursen (und strikt seiner ontologischen Betrachtungsweise verpflichtet), über die Themen und Institutionen der japanischen Kultur und arbeitet dabei mit dem, was Japan in ihm selbst auslöste. „Japan hat ihn in die Situation des Schreibens […] versetzt“ (Ette 1999, 274). Die Schrift bzw. das Geschriebene ist hier von besonderer Bedeutung, ganz so wie die Leere des Zeichens, um die Barthes Fragmente kreisen.

Vor dem Hintergrund der Veränderungen innerhalb der Medienlandschaft – etwa der Entwicklung des Telefons zum Mobil- und Smartphone – soll nun vor allem ein Bereich des ‚Reich der Zeichen‘ neu betrachtet werden: die mediale Einschreibung und Verortung des Subjekts in der Stadt. Im Kapitel ‚Ohne Adressen‘ beschreibt Barthes Tokyos Zeichensystem anhand der Adresse – bzw. deren  Absenz. Ein Zahlensystem, das nur postalische Relevanz besitzt, dem Suchenden in seiner Hoffnung auf Orientierung aber wenig Anhaltspunkte bietet. Eine „Unschärfe in der Bestimmung der Wohnung“ (RZ, 51); eine unbequeme Namenlosigkeit, die jedoch „durch eine Reihe von Hilfsmitteln (so jedenfalls scheint es uns) ausgeglichen“ (RZ, 51) wird. Diese Hilfsmittel sind Karten, handgefertigte Zeichnungen, Telefonbücher, Taxifahrer und große, rote Telefone, „die an fast allen Straßenauslagen installiert sind.“ (RZ, 54) Barthes schildert, wie andere ihm mit Bleistift und Radiergummi, mit Sprache, mit Geste den Weg leiten, der nur durch Gehen und Sehen gefunden werden kann, nicht aber durch die gedruckte Adresse.

Wer sich heutzutage nach Tokyo begibt, wird sich weniger auf mündliche oder gezeichnete Wegbeschreibungen, sondern vielmehr auf das Smartphone verlassen. Die Adresse ist schnell kopiert und in eine (einschlägige) App auf dem Gerät eingegeben, die binnen Sekunden den Standort des Nutzenden lokalisiert und diesen auf schnellstem Wege durch die unbekannte Stadt manövriert. Das Gehen und Sehen wird erweitert um ein (Ein-)Schreiben und ein (Ab-)Lesen aus dieser App. Bleistift und Radiergummi werden ersetzt durch Smartphone, GPS und LTE. Die Zeichen der Stadt flottieren zwischen ihren Orten und ihrer modellhaften Entsprechung auf der Karte, die sich der Bewegung anpasst, auf die Umgebung reagiert, mit ihr verwoben ist. Das Gehen ist gleichzeitig Weg-finden und Geführt-werden (Navigation); gleichzeitig eine Einschreibung in die virtuelle Karte und sowie in tatsächliche Stadt. Die Navigation bindet das Subjekt an die Karte; das Weg-finden bindet es medial und sensorisch an seine Umgebung (vgl. Thielmann 2014). Die Schrift wird dabei zur Spur. Das Wischen oder Tippen mit dem Zeigefinder auf dem Display gleicht einer indexikalischen Geste (vgl. Ruf 2014; Ganzert  et.al. 2017) – oder dem Deuten der Stäbchen auf ein Stücken Reis oder Fisch (vgl. RZ, 30). Der Finger schreibt den Ort. Oliver Ruf spricht in diesem Zusammenhang auch von bewegtem Schreiben. Er geht davon aus, „dass ‚Schrift‘ und damit auch ‚Schreiben‘ ‚Bewegung‘ notieren – ‚Schrift bewegt sich. Schrift ist ein Effekt von Bewegung, und Schrift bewirkt Bewegung‘ – und zugleich durch ‚Bewegung‘ hervorgebracht sind.“ (Ruf 2014, 31) Gehen und Schreiben fallen in eins.

Die Fragen, denen ich in diesem Zusammenhang nachgehen möchte sind: Was ist Ort und (un)geschriebene Adresse? Was ist Gehen und Sehen mit dem Smartphone und was bedeutet dies für das Zeichen (und seine Einschreibung), welches Barthes so eindrucksvoll beschreibt. Schließlich beobachtet er: „Da die Adresse ungeschrieben ist, muss sie sich eine eigene Schrift schaffen.“ (RZ, 55) Es wird zu überprüfen sein, wie sich diese gestaltet.

Literatur:

Barthes, Roland (1970/1981): Das Reich der Zeichen, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Ette, Otmar (1999): Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Ganzert, Anne et al (2017): „In the Footsteps of Smartphone-Users. Traces of a Deferred Community in Ingress and Pokémon Go”, in: Digital Culture and Society Vol. 3(2) 2017: Mobile Digital Practices, S.41-57.

Ruf, Oliver (2014): Wischen & Schreiben. Von Mediengesten zum digitalen Text, Berlin: Kadmos.

Thielmann, Tristan (2014): “Mobile Medien”, in: Schröter, Jens (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart: J.B.Metzler, S.350-359.

Jasmin Kathöfer (M.A.) arbeitet als Assistenz der Institutsleitung am Institut für Medienwissenschaft, Hochschule für Bildende Künste (HBK) Braunschweig, 2016 bis 2019 Stipendiatin im Graduiertenkolleg »Das fotografische Dispositiv« an der HBK Braunschweig mit einem Promotionsprojekt zum Thema »Tracking the Index: Daten Kunst Spuren. Eine Auseinandersetzung mit der Indexikalität digitaler Daten und Daten-Kunst«, Studium an der Universität Siegen (Literatur, Kultur, Medien und Kunstgeschichte B.A., Medienkultur M.A.), 2016-2018 Mitarbeit im Projekt »Die Gesellschaft nach dem Geld« an der Universität Bonn, Arbeitsschwerpunkte: Digitales Tracking, Medienkunst und die Zeichenlandschaft ‚Japan‘. Publikationen u.a. »When loud Weather buffeted Naoshima. A Sensory Walk«, in: Walking, Academic Quarter Vol. 18/2019, »Ist das schon das Foto? Eine Auseinandersetzung mit dem Ephemeren bei Tadao Ando und Hiroshi Sugimoto« in: ffk- journal 5/2020, »‚Take back your Data and turn it into Art‘ – mediale Kunst zwischen Sur- und Sousveillance« in: Torsten Erdbrügger / Liane Schüller / Werner Jung (Hrsg.): Mediale Signaturen von Überwachung und Selbstkontrolle, Peter Lang 2022. 

https://www.hbk-bs.de/

Misa Fujiwara (Kyoto Frauen-Universität): Enigmatische Buchstaben im Gemälde eines toten Kindes. Ent- und Verschleierung der Sünde in Storms Novelle ‚Aquis submersus‘

In der Novelle Aquis submersus (1876) von Theodor Storm (1817-1888), einem Autor des poetischen Realismus, liegt der Fokus auf der tragischen Liebesgeschichte zwischen dem Maler Johannes und seiner Geliebten Katharina, die schließlich zum Ertrinken ihres Sohnes führt. Wer trägt die Schuld am Tod dieses Kindes? Als Schlüssel dazu werden dem Leser vier rote Buchstaben »C. P. A. S.« am unteren Teil des Gemäldes des toten Kindes präsentiert. Der Rahmenerzähler, der diese Buchstaben entdeckt, vermutet, dass es ›Culpa Patris‹ (›Durch Vaters Schuld‹) bedeuten könnte. Die Antwort wird später durch die Hefte der Handschriften vom Maler Johannes enthüllt. Tatsächlich erkannte er, dass die Schuld am Tod seines Sohnes bei ihm lag.

Ursprünglich sollten das von Johannes gemalte Gemälde und die darin enthaltenen Buchstaben den Ausdruck des Schuldgefühls in Bezug auf den Tod seines Kindes und eine Warnung für die Nachwelt darstellen. In dieser Hinsicht sollten das Gemälde und die Buchstaben eine wechselseitige Wirkung haben. Doch im Laufe der Zeit, wenn die Bedeutung der Inschrift nicht genau erfasst wird, kommt es zu Rissen in der Beziehung zwischen dem Gemälde und den Buchstaben, und es entsteht die Notwendigkeit, die in den Buchstaben versteckte Bedeutung zu entschlüsseln. Bis der Rahmenerzähler die Handschriften von Johannes auffindet, bleiben die Buchstaben ein völlig rätselhaftes Element für sich.

In diesem Werk kommt einerseits die Handlung voran, während man die vermutete Bedeutung der Buchstaben entschlüsselt. Andererseits wird im Titel »Aquis submersus« lediglich der letzte Teil, nämlich die letzten beiden Buchstaben, hervorgehoben, während der Teil ›C. P.‹ untergetaucht bleibt und ihn somit eine gewisse geheimnisvolle Aura umgibt. Dies bedeutet, dass sowohl die Entschleierung als auch die Verschleierung der Tatsachen dargestellt werden, die sich gegenseitig beeinflussen.

In früheren Forschungen zu diesem Werk wurde hauptsächlich auf Fragen der Schuld (Jackson 1972; Coupe 1975) und der Beziehung zwischen Bildern und Texten (Ort 1998; Nuber 1993) eingegangen. In diesem Vortrag wird aus der Perspektive der Macht der Schrift eine eingehende Untersuchung der Bedeutung der vier Buchstaben im Gemälde, der symbolischen Inschrift über der Tür eines alten hochgegiebelten Hauses sowie der Hefte des Malers Johannes vorgenommen. Es wird auch erforscht, wie diese Elemente in Verbindung mit dem Schuldgefühl der Hauptfigur miteinander verwoben sind.

CV Misa Fujiwara

Rolf Parr (Universität Duisburg): Schreibszenen, nicht Schrift. Zur Thematisierung des Schreibens in der deutschsprachigen Koloniallitertaur

In literarischen Texten der deutschen Kolonialliteratur wird – anders als in Texten mit ethografischem oder ethnologischem Charakter – kaum einmal das Medium ›Schrift‹ thematisiert, wohl aber in vielfältiger Form das Schreiben als einer Form der Produktion von Texten. In Gustav Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Süd­west« (1906) sind es die gerade mit dem Wissmann-Dampfer in Südwestafrika angekommenen deutschen Schutz­truppler, die sofort damit beginnen, Postkarten und Briefe nach Hause zu schreiben; eine Schreibszene, die dann den restlichen Roman in Variationen durchzieht. Schaut man sich die unmitelbaren Kontexte solcher ›Schreibszenen‹ an, dann sind dies meist solche, die zeigen, dass die indigene Bevölkerung diese Schreibtätigkeit nicht versteht und ihr besten­falls mit Gleichgütigkeit begegnet, schlechterenfalls mit Lärm und anderen Formen der Unruhe, also den genuinen Feinden allen Schreibens. So sind es bereits beim Zwischen­stopp auf den Kanarischen Inseln – Grenze und zugleich Raum des Übergangs zwischen Europa und Afrika und damit zwischen Schwarz und Weiß – zwei Szenen des Post­karten­schreibens, die die distanzierte Wahrnehmung fremder Kulturen rahmen. Nur krasse Außenseiter unter den Schutztrupplern schreiben keine Postkarten.

Der Votrag geht diesen und weiteren Szenen des Briefe- und Postkartenschreibens sowie ihren durchaus variierenden Funktionen am Beispiel kanonischer Titel (Gustav Frenssen, Hans Grimm), aber auch weniger bekannter Texte der deutschen Koloniallitera­tur nach.

Prof. Dr. Rolf Parr, MAE (*1956) is Professor of German Studies (Literature and Media Studies) at the University of Duisburg-Essen. – Main areas of his work are literature, media, and cultural theory/history from the 18th to 21st century; literary-cultural groups, (inter-)discourse theory and research on questions of normality; collective symbols; literature/media relations; television; medial representations of work; urban studies and last but not least colonial literature. – The main concept of his work is that of a literary science extended to media and cultural studies, which is interested in manifold ways in the connection between ›high‹ culture and media forms of everyday life. – Honors and awards: Member of the Academia Europaea (2022). Diversity Award of the University of Duisburg-Essen in the category »Research« (2018). – Appointment as Honorary President of the International Wilhelm Raabe Society (2016). – Award of the dissertation as outstanding scientific work with the prize of the Ruhr-University Bochum for 1990. – Visiting Professorships and Visiting Scholarships (selection): Visiting scholar at the Department of German Philology, Vilnius University (2019). – Visiting Professor at the Department of Language & Literature Studies, University of Namibia, Windhoek (2018, 2014). – Visiting scholar at the Department of German and Russian Languages and Literatures at the University of Notre Dame, Indiana (2018). – Visiting Professor at the German Department of the University of Cincinnati (2014). – Visiting Professor at the Institute for æstetik og kommunikation, Aarhus Universitet, Denmark (2014). – Visiting Professor at Duke University, Durham, North Carolina, USA (1998). – Visiting Professor at the Department of Language and Culture Studies, Tokyo University of Agriculture and Technology (1998). – Visiting Professor in South Korea at Korea National University of Education (Chungbuk), Korea National University (Seoul) and Sung Kyun Kwan University (Seoul), College of Humanities/German language and literature (1998). – Visiting Professorship University of Leiden, Netherlands (1997). – Selected publications: (1) R.P. (together with P. Trilcke/G. Radecke/J. Bertschik (Eds.): Theodor Fontane Handbuch. 2 Bde. Berlin, Boston: de Gruyter 2023. – (2) R.P. (together with D. Hardt/J. Gurr (Ed.): Metropolitan Research: Methods and Approaches. Bielefeld: Transcript 2022 (Urban Studies) (will be published soon). – (3) R.P. (together with C. Kammler/U.-J. Schneider (Ed.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler, 2. Aufl. 2020. – (4) R.P. (together with B. Caspers/D. Hallenberger/W. Jung): Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Literaturgeschichte nach Knotenpunkten. Stuttgart: Metzler 2019. – (5) R.P. (together with A. Honold) (Ed.): Lesen. Handbuch. Berlin, Boston: de Gruyter 2018. – (6) R.P. (together with T. Dembeck) (Ed.): Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr 2017. – (7) R.P. (together with D. Göttsche/F. Krobb (Ed.): Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2016. – (8) R.P.: Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen. Konstanz: Konstanz University Press 2014. – (9) R.P.: Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Vereinen, Gruppen und Bünden zwischen Vormärz und Weimarer Republik. Tübingen: Niemeyer 2000. – (10) R.P. (together with W. Wülfing/K. Bruns) (Eds.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998 (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte, Bd. 18). – (11) R.P.: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860–1918). München: Fink 1992.

Website (with further information): https://www.uni-due.de/germanistik/parr/

Thomas Schwarz (Nihon Universität, Tokyo): „[...]vielfach sich kreuzende Linien.“ Die exotische Kalligraphie in Kafkas tropischer Strafkolonie

Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1919) lässt sich als eine Schreibszene lesen, in der ein technischer Apparat buchstäblich einen Körper signiert. Die Haut des Verurteilten wird zum materiellen Zeichenträger, auf dem der Schuldspruch mit tödlichen Konsequenzen festgehalten wird. Der Vortrag geht von der Annahme aus, dass Kafkas Text auf die im kolonialen Diskurs der Jahrhundertwende kontrovers diskutierte Frage nach dem Nutzen von Strafkolonien reagiert.
Walter Müller-Seidel hat auf intertextuelle Verbindungen zwischen Kafkas Erzählung und dem Reisebericht des Juristen Robert Heindl aufmerksam gemacht, der im Auftrag des deutschen Justiz- und des Kolonialministeriums eine Forschungsreise nach Neukaledonien, in die pazifische Strafkolonie Frankreichs, unternommen hat, aber auch ‚Verbrecherkolonien‘ in Australien, auf den Andamanen und in China besucht hat, um deren Effektivität zu prüfen.
Vor dem Hintergrund verschiedener Reiseberichte beleuchtet der Vortrag, wie in Kafkas Strafkolonie ein exotistischer Reisender mit den Praktiken eines kolonialen Disziplinarregimes
konfrontiert wird, das eine barbarische „Mnemotechnik“ (Nietzsche) kultiviert, um koloniale Macht zu reproduzieren. Es ist zu diesem Zeitpunkt allerdings von einer eher utilitaristischen
Administration abgelöst worden, die eine vergleichsweise „milde Richtung“ vertritt. Indem sie den Forschungsreisenden einlädt, an einer Exekution teilzunehmen, übt sie einen starken Rechtfertigungsdruck auf den Offizier aus, der in Kafkas Erzählung als Henker das alte Regime repräsentiert. Zur Vollstreckung von Todesurteilen bedient sich der Offizier einer Sammlung von Musterurteilen in der Form moralischer Grundsätze, mit denen sich die ‚Schreibmaschine‘ des ihm zur Verfügung stehenden Folterapparats programmieren lässt. Weder der Forschungsreisende, geschweige denn das Opfer dieser kolonialen Gewalt können die ‚kunstvolle‘ Schrift entziffern. Zu sehen sind lediglich „labyrinthartige, einander vielfach sich kreuzende Linien, die so dicht
das Papier bedeckten, dass man nur mit Mühe die weissen Zwischenräume erkannte“. Der Verurteilte allerdings soll die Schrift während einer stundenlangen Folter mit deren zunehmender
„Vertiefung“ physisch begreifen. – Im Zentrum meiner Analyse steht die ästhetische Resonanz der unleserlichen Schriftzeichen des Schuldspruchs, die in die Haut des Delinquenten tätowiert wird, mit der Hypothese, dass es sich um chinesische Kalligraphie handelt

Literatur
Kafka, Franz: In der Strafkolonie. Leipzig: Wolff 1919.
Heindl, Robert: Meine Reise nach den Strafkolonien. Berlin: Ullstein 1913.
Honold, Alexander: In der Strafkolonie. In: Bettina von Jagow / Oliver Jahraus (Hg.): Kafka-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 477–503.
Müller-Seidel, Walter: Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung In der Strafkolonie im europäischen Kontext. Stuttgart: Metzler 1986.

Kurzbiographie
Thomas Schwarz hat Deutsch und Geschichte studiert und mit einer Arbeit über den österreichischen Expressionisten Robert Müller promoviert. Nach Stationen als DAAD-Lektor in Korea und Indien arbeitet er seit 2013 an japanischen Universitäten. Im April 2020 hat er eine Professur an der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur an der Tokyoter Nihon University übernommen. Seine Forschung zum Thema Exotismus wird noch bis 2024 von der Japan Society for the Promotion of Sciences (JSPS) gefördert.